Ein Plädoyer für die Angst (GER)

Dies ist mein Gastbeitrag zum Wochenthema "Angst" von @tineschreibt - mehr Infos findet ihr hier im Ankündigungspost: Wochenthema: Ankündigung des "Projekt Angst"


Die Angst vor der Angst

Wenn man heutzutage auf einer Plattform wie Youtube das Wort "Angst" eingibt, erscheinen scheinbar endlos viele Videos, die helfen sollen, die Angst zu bekämpfen - sprich diese los zu werden. In den meisten dieser Videos wird Angst als eine Art Krankheit dargestellt, die es bestmöglich zu bekämpfen und unterdrücken gilt. Aber ist sie das wirklich?

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich euch drei fiktive Kurzgeschichten erzählen.


1. Der Teufelsfall

Mitte August, dreißig Grad im Schatten - was gibt es da besseres als einen Ausflug in die Natur, um sich in dem tösenden Gewässer einer Klamm so richtig abzukühlen. Das dachten sich auch Max und Moritz, zwei junge Männer die vor keinem Abenteuer zurückscheuten.
Und so machten sie sich auf den Weg zur Waldklamm, einer Schlucht in der Nähe ihres Wohnortes. Wie schon so oft zuvor stiegen sie dort, wo der Gebirgsbach in den Fluss mündet, in die Klamm ein. Wasserfall über Wasserfall, Felsen über Felsen, kletterten sie bis zum höchsten Wasserfall der Klamm - dem Teufelsfall - bachaufwärts.

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Bisher war dieser immer der Endpunkt ihres Ausfluges gewesen, weiter aufwärts hatten es weder sie noch ihre Freunde je geschafft. Und das aus gutem Grund. Da der Felsen so sehr mit Moos überzogen war, war dank der rutschigen Unterlage an ein weiterklettern nicht zu denken.

Doch heute war alles anders. Aufgrund der enormen Hitze schien das Moos deutlich trockener zu sein. Moritz sah seine Chance, den Teufelsfall endlich zu bezwingen. Vergeblich versuchte er, Max zum Mitklettern zu überreden - doch dieser blieb stur und wollte den Aufstieg nicht riskieren.

So machte sich Moritz alleine ans Werk - und siehe da - innerhalb von Minuten hatte er beinahe das obere Ende erreicht. Er schaut auf Max hinunter und rief: "Siehst du du Feigling? Geht doch eh easy!".

Doch dann passierte es, auf dem letzten Meter verlor er den Halt und stürzte ab. Drei Meter bergab, mit dem Hinterkopf auf einen Felsen. Max versuchte noch, Moritz wachzurütteln - Aber es war zu spät.


2. Einmal ist keinmal?

Robert, ein 28 Jahre alter Mann der alles hatte - Frau, Kind, Haus, Job - fuhr übers Wochenende zu seinem besten Freund Lukas in die Großstadt. Und wie es die beiden aus Studienzeiten gewohnt waren, bedeutete diese kurzzeitige Freiheit nur eines: Party.

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Und so folgte ein Bier dem anderen, aus einem gemütlichen Zusammensitzen wurde rasch ein Besuch in der lokalen Discothek. Und dann war da auf einmal Anna - 24, blond, Jus-Studentin - und offensichtlich schwer angetan von Robert.

Als Robert gerade an der Bar war, setzte sich die junge Blondine neben ihn - "Bekomm ich auch was?", flüsterte sie dem jungen Mann ins Ohr. Dieser konnte der süßlichen Stimme nicht widerstehen und lud die Frau auf einen Cocktail ein.

Und so ging es weiter. Aus einem Drink wurde ein Gespräch. Aus einem Gespräch wurde ein Flirt. Aus dem Flirt wurde ein Tanz.

Doch dann packte Robert das Gewissen und er wendete sich an Lukas, der gerade mit Annas Freundin Natalie innig am Tanzen war - "Du Lukas, ich glaube wir gehen besser - Sonst tue ich noch Dinge, die ich nicht tuen will.".

"Ach Robert, sei doch mal locker! Einmal ist keinmal!" sagte Lukas, bevor er sich wieder Natalie zuwandte...

Das nächste, an was sich Robert erinnern konnte, war, dass er nackt in einem fremden Bett lag - neben Anna. Es war also passiert. Doch er konnte nicht anders, er musste es seiner Frau sagen.

Zwei Monate später ging Robert aus dem Gericht und weinte - er hatte alles verloren: Seine Frau hatte sich von ihm getrennt, das Sorgerecht für die Tochter sowie das Haus hatte sie eben bekommen. Und das alles, weil er im entscheidenden Moment keine Beherrschung aufbringen konnte.


3. Auf dem Weg zum Lamborghini

"Das musst du dir ansehen" sagte Daniel seinem Freund Thorsten, während er ihn am Ärmel in Richtung Bildschirm zog. Bitcoin - die Zukunft der Währungen strahlte den beiden Jungs von der Mitte des Bildschirms entgegen.

Drei Stunden und unzähliges Infomaterial später waren sich die beiden sicher - in diese Technologie mussten sie investieren - es konnte ihr Schlüssel zu schnellem Reichtum sein. Sofort registrierten sich beide bei einer Kryptobörse und kauften sich ein paar Stück dieser ominösen Cyberwährung.

In den nächsten Wochen wurde ein stündlicher Blick auf die Kurse genauso normal wie der Blick auf die Uhr - Und die Kurse stiegen und stiegen.

Daniel, der sein Auto abbezahlen musste und deswegen nicht zu viel riskieren wollte, begann, sich Teile auszahlen zu lassen - somit hatte er immerhin schon das doppelte seiner ursprünglichen Einzahlung wieder retour bekommen. Thorsten hingegen wurde gieriger und gieriger. Sein altes Auto hatter er schon längst abgeschrieben - ein paar Wochen noch, und er würde sich sowieso den lang ersehnten Lamborghini kaufen können. Und verkaufen sei doch sowieso etwas für Looser - "HODL!", ja das war die Strategie zum schnellen Reichtum.

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Doch dann kam der große Crash - minus 80% in einer Woche. Daniel, der sein Investment ja bereits wieder mit Gewinn heraußen hatte, blieb cool und lies seine Coins jedoch liegen. Thorsten, der noch alles Geld drinnen hatte, wurde nervös, als er der Preis plötzlich unter dem Ausgangswert lag. Er bekam Panik, und verkauft mit ein paar Prozentpunkten Verlust. Und er schwor sich, die Finger von diesem Betrug zu lassen.

Ein halbes Jahr später, kam Daniel strahlend vor Freude aus der Bank. Endlich hatte er die letzte Rate für seinen Polo abbezahlt - und das zwei Jahre früher als geplant. Doch die Kurse waren wieder gestiegen, und Daniel hatte erneut einen Teil seiner Cryptocoins verkauft, um den Ballast "Autokredit" frühzeitig abzuwerfen. Thorsten hingegen ärgerte sich grün und blau, dass er ausgestiegen war - und nun noch immer mit seinem Moped durch die Gegend fahren muss.


Angst schützt!

Spätestens nach dem Lesen dieser drei kurzen Geschichten ist euch hoffentlich klar, dass die Angst nicht nur negativ ist - Und das es schon gar keinen Sinn macht, Angst per se bekämpen zu wollen!

Mit etwas mehr Angst in der relevanten Situation, müssten Moritz Eltern nicht um ihren Sohn trauern. Und Robert hätte statt dem Gericht womöglich nur das Hotel verlassen, indem er mit seiner Familie auf Sommerurlaub ist. Auch Thorsten wäre mit etwas mehr Angst womöglich besser gefahren - wortwörtlich!

Denn Angst hat nicht nur das Potential uns zu hemmen - Nein, Angst hat sehrwohl auch das Potential uns zu schützen. Also habt keine Angst vor der Angst! ;)


An welche Situationen könnte euch ihr erinnern, wo euch die Angst vor gröberem Unheil bewahrt hat? Ich würde mich über eure Geschichten hierzu sehr freuen!


Liebe Grüße,
Martin

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